Traumdeutung 2019
Das Jahr begann mit einem Katastrophentraum. Wenn ich mich recht entsinne, träumte ich am frühen Morgen
des 1. Januar 2019, ein Staudamm oder ein riesiges Wasserreservoir sei geborsten und die tosenden Wassermassen
stürzten ins Tal. Es war eine gebirgige Gegend, deren Baumbestand überwiegend aus Kiefern bestand, die
mühsam in steinernen Hängen wurzelten. Ich befand mich etwas abseits und in halber Höhe zu den hinunterstürzenden
Wassermassen, die Geröll, Bäume, und alles was sich ihnen in den Weg stellten mit sich hinfort rissen.
Sofort war mir klar, dass höchste Gefahr bestand und ich lief so schnell ich konnte den steilen Weg hinauf,
zurück zu meinem Haus, welches sich weiter oben im Gebirge befinden musste.
Schon kamen die ersten Wogen den Berg hinauf gefegt, den ich soeben verlassen hatte, schon trieben Leichen in
den strudelnden Fluten, doch ich hatte einen gewissen Vorsprung, wunderte mich jedoch, dass das Wasser weit über
das Tal hinaus die Berge hinauf floss. Eine so große Wucht musste hinter den entfesselten Fluten stecken.
Vor mir sah ich das Haus. Es war ein altes vornehmes Holzhaus zu dessen Eingang man eine kurze Stiege hinauf musste.
Im Wohnraum oder der Eingangshalle saßen mehrere im Stil des letzten Jahrhunderts, konservativ gekleidete
Frauen in einer Reihe und nähten. Ich fragte, ob meine Tochter schon im Hause sei. Es sei gefährlich
draußen, man müsse unbedingt drinnen bleiben. Die Damen nahmen jedoch von mir keine Notiz.
Eine markante Männerstimmer sprach laut und eindringlich in den Raum: „Im Jahre 2019 wird alles zerbrechen.“
Danach wachte ich recht früh auf. Es war noch dunkel, obwohl die Uhr bereits 7:30 Uhr anzeigte. Ich lauschte
auf den gleichmäßigen Atem meiner Frau und sann über den merkwürdigen Traum und die eindringlich
warnende Stimme nach.
Man sagt, im Traum werden Konflikte thematisiert, die uns im Verborgenen beschäftigen.
In der Tat, überlegte ich, in die Finsternis blickend, hatte ich bereits seit längerer Zeit das Gefühl,
dass das Jahr 2019 das Ende einer Entwicklung darstellen würde, die nicht nur mich und meine Familie betreffen
würde, sondern darüber hinaus möglicherweise auch Deutschland, ja vielleicht die ganze Welt.
Nicht nur schien unsere Ehe inzwischen in ein Stadium gekommen zu sein, wo in einer Trennung auch eine neue
Chance liegen mochte, wenngleich weder ich noch meine Frau diesen Schritt wirklich wagten. Sei es der Kinder wegen
oder bei mir auch wegen der Sorge zu vereinsamen. So schienen wir beide auf eine Veränderung zu warten, die
von außen kommen möchte, um eine Entscheidung für uns zu treffen, zu der uns der Mut fehlte.
Auch deutete sich an, dass unsere Wohnung, eine zu knappe 100 Quadrameterwohung im dritten Stock eines hundertjährigen
Wohnblockes und schon lange zu klein für unsere vierköpfige Familie, nun durch die Vermieterin gekündigt
werden könnte. Bislang konnten wir uns nicht zu einem Umzug entscheiden, vor allem des Geldes wegen, aber
bei mir auch, weil ich die Gegend am Botanischen Garten mochte und weil ich mir nicht vorstellen konnte, mit meiner
Frau in der kalten, unfreundlichen Atmosphäre unserer Ehe in einer Immobilie gefangen zu sein, die wir dann
notgedrungen bis zum bitteren Ende hätten teilen müssen. Doch auch hier deutete sich an, dass uns die
Entscheidung abgenommen werden könnte.
Hinzu kam, dass auch der Beruf meiner Frau, die als Ärztin in einer stressigen Praxis angestellt war, zu
einem Wechsel veranlassen könnte, indem sie in die Selbstständigkeit ginge, wenngleich diesbezüglich
noch nichts Konkretes vorlag.
Ich habe vor, in diesem Jahr vorzeitig in Rente zu gehen, trotz der Abzüge, doch auch dies ist eine eher
unsichere Entscheidung, da ich lediglich mit einer kleineren Rente zu rechnen hätte, nicht einmal halb so
groß wie die meines Vaters, und ich außerdem zunehmend vor die Frage gestellt war, was ich in den letzten
Jahren bis zu meinem Tod sinnvolles zu tun gedächte.
Insgesamt muss ich also zugeben, kam mir der Traum, so dramatisch er auch erschien, doch sehr gelegen. Nähme
mir eine Katastrophe doch die Last ab, die eine freie Entscheidung darstellen kann.
Nach einer Weile entschied ich, mich trotz Müdigkeit aus dem Bett zu erheben und ein wenig im Wohnraum
aus dem Fenster zu schauen.
Noch immer war kein Lichtschimmer am Horizont zu erblicken. Lediglich die Weihnachtsbeleuchtung, die noch in
einigen Fenstern der Nachbarschaft verblieben war und die Straßenlaternen erhellten die Straßen und
Häuserfronten.
Ich bin weit entfernt davon, mir allzuviel Gedanken über die Zukunft zu machen, zumal bereits die täglichen
Meldungen ein ziemlich deutliches Bild von deren Entwicklung zu zeichnen scheinen. Nimmt man alle Nachrchten, Berichte
und Prognosen zusammen, so scheint nichts Gutes daraus zu erwachsen. Im Grunde deucht es mir, als läge die
Gewissheit über den Untergang der Menschheit wie eine dezente Hintergundbeleuchtung hinter allen Kommentaren
und Nachrichten die mich täglich erreichen. Dort schmelzen die Pole, hier ersticken wir in Abgasen, die überfischten
Meere versumpfen im Plastikmüll, die Atommächte rüsten weiter auf, die Wirtschaft schröpft
mit ihrer zerstörerischen Gefräßigkeit die letzten Ressourcen, Menschen flüchten vor Krieg
und Elend, andere fürchten von diesen überrannt zu werden. Kulturen prallen aufeinander, Religionen bilden
das Zündwerk für Fanatismus und Terrorismus und dahinter schüren geld- und machtgierige Strippenziehern
die weltweiten Konflikte und füttern die Krisenherde mit Waffen.
Mir erscheint es fast, als warte der überwiegende Teil der Menschheit trotz gegenteiliger Beteuerungen, heimlich
auf das erlösende Untergangsszenario.
Es gibt also in meiner Psyche genügend Grund, über die angebrochene Endzeit zu träumen.
Warum es heute nicht hell wird?
Die dunkle Seite des Mondes, überlege ich, die nun von der chinesischen Raumsonde entjungfert worden ist,
ist ja gar nicht dunkel. Sie soll sogar heller sein, als die erdzugewandte Seite. Was wollen wir eigentlich auf
Mond oder Mars?
Auswandern. Das ist auch so ein Thema.
Ich habe schon lange das Gefühl, dass ich auswandern sollte. Vor Jahren habe ich mir die behördliche
Erlaubnis besorgt, die Homologisation, mit der ich mich ohne weiteres hätte in Spanien beruflich niederlassen
können. Warum in Spanien? Italienisch ist viel lustiger.
Der Spanier hat eine merkwürdige Art zu denken und zu sprechen. Ein wenig verschraubt, fast dünkelhaft.
Der Italiener hingegen spricht wie der denkt und er denkt wie sein Herz spricht. Ich mag Italiener und Pasta mag
ich auch. Aber Tapas eigentlich auch.
Ein Blick auf das Thermometer am Fenster sagt mir, dass es jetzt genau der richtige Zeitpunkt sei, auszuwandern.
Es ist nur 1° Plus und es scheint etwas zu nieseln. Jedenfalls wirkt der Straßenbelag nass. Trotzdem
bin ich bis heute nicht ausgewandert.
Das Klackern des nachts vorsorglich eingesperrten Kuckucks in der Schwarzwälder Kuckucksuhr zeigt an, dass
es nun 8 Uhr geworden sein muss. Wann geht eigentlich normalerweise die Sonne auf am ersten Januar?
Der Himmel ist dunkelgrau gefärbt. Offenbar liegt eine dicke Wolkendecke über Berlin und sperrt die ersten
Lichtstrahlen aus, die drüben über der S-Bahnstrecke Richtung Osten zu sehen wären. Normalerweise.
Der Mond, der nun chinesisch ist, ist auch nirgends zu sehen. Die Chinesen dehnen ihr Reich konsequent und systematisch
immer weiter aus. Gestern sah ich einen Beitrag, in dem ein irritierter deutscher Reporter feststellte, dass pakistanische
Kopftuchmädchen entlang der neuen, im Bau begriffenen Seidenstraßen, in neu gebauten Schulen, mit neu
eingestellten Lehrern Chinesisch lernen. Mit chinesischem Geld, versteht sich. Am meisten belustigte mich an der
Fernsehreportage der misslaunige deutsche Reporter, der ums Verrecken aus dem pakistanischen Bauingenieur nicht
herauskitzeln konnte, dass Chinamänner böse sind. Typisch deutsche Miesmacherei. Unsympatisch. Wir leiden
an einem klaren Feindbild und einem illusorischen Freundbild. Alles was West ist, ist Freund, alles was Ost ist
Feind. Bullshit. Gleichzeitig blasen wir uns zu Weltmoralisierern ersten Grades auf, solange bis wir platzen. Vielmehr
nicht wir, sondern die. Die Medienmacher, die Meinungsbildner und die vorlauten Gazettenschreihälse und Kirchenkinderschänder.
Ich schüttele den Kopf. „2019 wir alles zerbrechen“. Was soll‘s also? Haben wir eigentlich genug Vorräte
im Haus? Wenn es hart auf hart kommt? Wo ist der Gaskocher, wenn der Strom ausfällt? Ich beschließe,
demnächst einmal im Keller nachzuschauen. Dort liegt auch noch das aufblasbare Gummiboot, das wir nie benutzt
hatten. Obwohl, so hoch wird das Wasser ja nicht kommen. Bis zum dritten Stock. Unwahrscheinlich.
Man sollte nochmals Nachfüllgas fürs Feuerzeug kaufen. Das schadet ja nichts, wenn man es im Haus hat.
Angenehmer als Streichhölzer.
Es ist immer noch nicht heller geworden.
Das einzige Licht, das angegangen ist, ist das Licht meines automatischen Indoor- Gemüsegartens auf Hydroponic
Basis. Mein ganzer Stolz. Vollautomatische Salatzucht. Salat ist gesund. Auch das Aquariumslicht ist angesprungen,
Punkt acht Uhr. Der Joghurtbecher mit der Versuchspilzzucht steht auf dem Aquariendeckel. Pilze sind eiweißhaltig.
Kann im Krisenfalle nichts schaden. Salat und Pilze. Damit kann man sich eine Zeitlang über Wasser halten.
Ich meine, wenn dann die Krise kommt.
Man könnte auch aus alten Zeitungen und Kaffeesatz ein schönes Zuchtmedium für Pilze machen. Zeitungen
sind ja nichts weiter als Holz und Pilze lieben verrottendes Holz. Und Kaffeesatz.
Ich überlege, ob es noch zu früh ist für eine Tasse Kaffee?
Neulich habe ich gesehen, wie man mit einer Zitrone Feuer machen kann. Man braucht nur Kupfermünzen, Zinknägel
und Draht sowie etwas Stahlwolle. Die Leute sind echt kreativ. Ob ich Zinknägel im Hause habe?
Letzte Woche stand ich in einem Messer- und Waffengeschäft neben jemanden der sich eine Schreckschusspistole
gekauft hat. So wie man eine Packung Milch kauft. Er fuchtelte vor der Kasse damit herum, was ich merkwürdig
fand. Noch merkwürdiger fand ich die Ansage der Verkäuferin, wenn er zuhause schießen üben
würde, solle er den Nachbarn Bescheid sagen, damit diese sich bei dem Geballere nicht erschrecken. Seine Freundin
stand daneben und schien das auch alles normal zu finden. Mich gruselte etwas. Was nützt letztlich eine Schreckschusspistole?
Sie hilft nur gegen die eigene Angst, solange bis es Ernst wird. Brauch ich nicht. Wichtiger, habe ich mir überlegt,
sind Netzwerke.
Sollte mal wieder mit den Nachbarn sprechen, auch wenn die doof sind in ihrer Spießigkeit.
Im Krisenfall hilft jeder gegen jeden nicht. Da wird es nur noch schlimmer, überlege ich mir.
Müsste dann auch mit meiner Frau einen vorübergehenden Waffenstillstand schließen, fürchte
ich.
Wäre doch ganz gut, wenn die Krise noch nicht so bald käme. Ob es heute nochmal hell wird?
(c) Levi Krongold
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